Überblick
PatG §§ 139 I, 140a I; Arzneimittelagentur-VO (VO (EG) 726/2004) Art. 14 Nr. 11; AMG § 24b I; ZPO §§ 935, 91 I, 540 II, 313a II, 542 II; TRIPS Art. 50 I; Enforcement-RL (RL 2004/48/EG) Art. 9 I
1. Eine kontradiktorische Rechtsbestandsentscheidung kann auch insoweit entbehrlich sein, als in der Beschwerdeinstanz des Erteilungsverfahrens neue Einwendungen Dritter wegen Verspätung nicht mehr berücksichtigt wurden. Es ist dann Sache des Antragsgegners darzutun, dass diese oder andere neue Entgegenhaltungen größere Relevanz haben als die bereits vorgebrachten und daher die Ablehnung der Unterlassungsverfügung rechtfertigen.
2. Ist das Verfügungspatent in der Beschwerdeinstanz des Erteilungsverfahrens unter Behandlung von Einwendungen Dritter zustande gekommen, kann eine einstweilige Verfügung nur unter den strengen Voraussetzungen verweigert werden, die bei der Abweichung von einer positiven, kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung gelten: Unvertretbarkeit der Erteilung oder aussichtsreicher neuer Angriff auf Grundlage von bisher unberücksichtigtem Stand der Technik. (Leitsätze der Verfasser)
OLG Düsseldorf, Urteil vom 3.8.2023 – 2 U 42/23, GRUR-RS 2023, 22090 – RRMS-Therapie VIII
Sachverhalt
Die Verfügungsbeklagte, eine Generikaherstellerin, begehrt Aufhebung einer gegen sie ergangenen einstweiligen Unterlassungsverfügung, die das LG Düsseldorf gemäß §§ 139 I 1, 140a I 1 PatG erlassen hatte.
Entscheidung
Die Berufung hat Erfolg. Das OLG Düsseldorf hat durchgreifende Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents.
Dabei bejaht das OLG Düsseldorf vorliegend gleich zwei in seiner Rechtsprechung anerkannte, beispielhafte Ausnahmetatbestände, die eine kontradiktorische Rechtsbestandsentscheidung zum Verfügungspatent entbehrlich machen können. Erstens wurde die Patenterteilung unter Würdigung von Dritteinwendungen beschlossen – vorliegend sogar von der Technischen Beschwerdekammer des EPA (TB-EPA), so dass dieser Entscheidung eine besondere Vermutung der Richtigkeit zugutekomme. Zweitens spreche das legitime Interesse eines Patentinhabers an der Abwendung irreparabler Schäden in GenerikaFällen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Ein solcher Fall sei auch dann gegeben, wenn generische Produkte nur deshalb bereits rechtmäßig auf dem Markt waren, weil das Verfügungspatent erst auf ein Rechtsmittel des Anmelders hin erteilt wurde – während das Generikaunternehmen, wie hier, vor dem ersten Inverkehrbringen seines Generikums um die demnächst erfolgende Patenterteilung gewusst habe.
Allerdings hat das OLG entgegen der Entscheidung der TB-EPA letztlich durchgreifende Zweifel an der Bestandskraft des Verfügungspatents, weil neue Gesichtspunkte zum Stand der Technik vorlägen, welche die Einschätzung der TB-EPA unvertretbar erscheinen ließen.
Praxishinweis
Das OLG Düsseldorf führt mit dieser Entscheidung die gefestigte Rechtsprechung der Düsseldorfer Gerichte zur Beurteilung des Rechtsbestands eines Patents im einstweiligen Verfügungsverfahrens fort. Übrigens hat erst kürzlich auch die Düsseldorfer Lokalkammer des EPG im Einklang mit dieser Rechtsprechung bestätigt, dass ein kontradiktorisches Rechtsbestandsverfahren für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen nicht in jedem Fall erforderlich sei (EPG GRUR 2023, 1370 – E-Bike = GRUR-Prax 2023, 604 [Augenstein]). Wie zuvor bleibt offen, ob sich die EuGH-Entscheidung „Phoenix Contact/Harting“ auf die bestehende Düsseldorfer Entscheidungspraxis auswirkt (GRUR-RS 2023, 2438 – RRMS-Therapie III = GRUR Patent 2023, 82 [Kommer]).
Die Entscheidung des OLG Düsseldorf zeigt erneut, dass Dritteinwendungen im Erteilungsverfahren für den Dritten gefährlich sein können. Das OLG Düsseldorf geht nämlich davon aus, dass dort nicht vorgebrachte Argumente im Zweifel unbedeutend seien (dazu GRUR-Prax 2023, 206 [Dellen/Englisch]), und das gleiche gelte für als verspätet zurückgewiesene Argumente. Letzteres stützt der Senat auch auf die Rechtsprechung der EPA-Beschwerdekammern, wonach der Zurückweisung neuen Vorbringens eine Prüfung vorauszugehen hat, ob die fraglichen Dokumente prima facie von hoher Relevanz sind. Letztlich sei es Sache des Verletzers, das Verletzungsgericht von der Relevanz zuvor nicht vorgetragener Argumente zum Stand der Technik zu überzeugen.
Letzteres gelang dem Verletzer vorliegend: Das OLG Düsseldorf verneint den gesicherten Rechtsbestand des Verfügungspatents, entgegen der Entscheidung der TB-EPA. Dabei ging das OLG – anders als die TB-EPA – da-von aus, dass es für den Fachmann nahelag, es mit einer geringeren Tagesdosis des Medikaments jedenfalls zu versuchen. Die Erkenntnislage am Prioritätstag habe verlässliche Hinweise auf einen therapeutischen Nutzen der geringeren Dosis gegeben. Daher konnte aus Sicht des OLG Düsseldorf eine Unterlassungsverfügung „nicht verantwortet werden“ (Rn. 70). Jedenfalls aber liege bisher unberücksichtigter Stand der Technik vor (Rn. 84), der durchgreifende Zweifel daran begründe, dass das Verfügungspatent den Einsprüchen gegen seine Erteilung standhalten werde.
Es ist nicht das erste Mal, dass der 2. Zivilsenat des OLG Düsseldorf die besondere Expertise technisch fachkundiger Spruchkörper wie EPA oder BPatG betont, sich aber dennoch in seiner Beurteilung des Falls sicher genug ist und sich aufgrund seiner eigenen richterlichen Verantwortung dazu gehalten sieht, im Ergebnis anders als diese Spruchkörper zu entscheiden (vgl. GRUR 2008, 1042 [Lenz]). Fälle, die zu solchen Entscheidungen Anlass geben, werden zwar die Ausnahme bleiben. Dennoch lohnt es sich genau hinzusehen: Ist eine Rechtsbestandsentscheidung oberflächlich, erkennbar fehlerhaft oder gibt es starke neue Argumente, auch ggf. aus ausländischen Parallelverfahren, kann im Verletzungsstreit erfolgreich geltend gemacht werden, dass die Rechtsbestandsentscheidung unvertretbar sei.