Überblick
Noch ist die virtuelle Hauptversammlung eine der pandemiebedingten Ausnahmesituation geschuldete provisorische Lösung, für deren Ende im sog. COVID-19-Gesetz der 31. August 2022 vorgesehen ist. Nun hat das Bundesministerium der Justiz einen Referentenentwurf zur „Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften“ vorgelegt, der auch für die Zeit nach der Corona-Pandemie eine dauerhafte Alternative zur Präsenzveranstaltung der Hauptversammlung eröffnen könnte. Wir haben die wesentlichen Regelungen des Entwurfs zusammengefasst.
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1. Wesentliche Regelungen des Referentenentwurfes
1.1 Bestimmung durch Satzung oder Ermächtigung des Vorstandes in der Satzung
Die Möglichkeit für Aktiengesellschaften, auch zukünftig das Format der virtuellen Hauptver-sammlung wählen zu können, wird im Entwurf durch Einführung eines neuen § 118a AktG-E geschaffen. Die vorgeschlagene Norm regelt die grundlegenden Voraussetzungen zur Abhaltung der Hauptversammlung in virtueller Form sowie Fragen der Anwesenheit, Befristung und in der Versammlung zugänglich zu machenden Unterlagen. Die Option einer virtuellen Hauptversammlung kann danach entweder direkt durch eine Bestimmung in der Satzung oder durch eine in der Satzung vorgesehene Ermächtigung des Vorstandes gewählt werden („Opt-in“). Wird der Vorstand durch eine entsprechende Satzungsregelung ermächtigt, bedarf es – anders als noch unter dem COVID-19-Gesetz – keine Zustimmung des Aufsichtsrates zur Entscheidung für die virtuelle Abhaltung.
Eine entsprechende Bestimmung der Satzung oder die Ermächtigung des Vorstandes in der Satzung müssen jedoch befristet werden und dürfen längstens für einen Zeitraum von fünf Jahren nach Eintragung der Gesellschaft, bzw. nach Eintragung der Satzungsänderung gelten. Um Zugzwang der Gesellschaften im Hinblick auf das Auslaufen des COVID-19-Gesetzes zum 31. August 2022 und die künftig erforderliche Satzungsregelung zu vermeiden, sieht der Referentenentwurf als Übergangsregelung vor, dass für Hauptversammlungen, die bis einschließlich 31. August 2023 einberufen werden, der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats entscheiden kann, dass die Versammlung als virtuelle Hauptversammlung nach § 118a AktG-E abgehalten wird.
1.2 Abhaltung nur unter bestimmten Voraussetzungen
Die Abhaltung im virtuellen Format setzt – insoweit ergeben sich keine Abweichungen zum pandemiebedingten Provisorium – eine vollständige Bild- und Tonübertragung der Versammlung voraus. Ebenso behält der Referentenentwurf die Voraussetzung einer Stimmrechtsausübung der Aktionäre über elektronische Kommunikation (elektronische Teilnahme oder elektronische Briefwahl) sowie Vollmachtserteilung bei.
Den Aktionären ist ausweislich des Entwurfs zudem weiterhin eine Möglichkeit zum Widerspruch gegen den Beschluss der Hauptversammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzuräumen.
Bemerkenswert ist, dass auch der Referentenentwurf auf eine Regelung hybrider Gestaltungsformen, also auf eine über die Ermöglichung der elektronischen Teilnahme nach § 118 Abs. 1 S. 1 AktG hinausgehende, Mischform von Präsenz- und virtueller Veranstaltung bewusst verzichtet hat.
1.3 Stärkung der Aktionärsrechte in der virtuellen Hauptversammlung
Im Vergleich zur Übergangslösung durch das COVID-19-Gesetz sieht der Entwurf jedoch bei der virtuellen Hauptversammlung eine umfassendere Regelung der Aktionärsrechte auch während der Versammlung vor.
Ausdrückliches Anliegen des Referentenentwurfes ist die Entzerrung der Hauptversammlung durch Vorverlagerung von Informations- und Entscheidungsprozessen. Während in der Präsenzveranstaltung weiterhin der Tag der Hauptversammlung der entscheidende Zeitpunkt zur Ausübung einer Vielzahl der Aktionärsrechte ist, werden diese im Referentenentwurf im virtuellen Format überwiegend in den Zeitraum vor der Hauptversammlung verlegt.
Bislang bestand unter dem COVID-19-Gesetz ein Fragerecht der Aktionäre im Vorfeld der Hauptversammlung. Der Referentenentwurf bestimmt nun als Voraussetzung für die Abhaltung in virtueller Form sowohl das (volle) Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 AktG als auch ein Rederecht im Wege der Videokommunikation während der Versammlung. Fragen, Stellungnahmen und Videostatements müssen bis vier Tage vor der Hauptversammlung angemeldet bzw. eingereicht werden. Das Auskunftsrecht der Aktionäre umfasst im Entwurf ein Fragerecht zwar nur im Vorfeld der Versammlung, jedoch auch ein Nachfragerecht in elektronischer Form während der Hauptversammlung zu den in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstandes. Damit geht die Neuregelung des Entwurfs über das Fragerecht des COVID-19-Gesetzes hinaus und normiert ein vollwertiges Auskunftsrecht der Aktionäre, das auch dem Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG wieder zugänglich ist. Aktionäre können sowohl Stellungnahmen vorab einreichen als auch von ihrem Rederecht in Form des Videostatements Gebrauch machen. Die Redebeiträge dürfen jedoch keine Fragen enthalten. Während der Versammlung sind versammlungsbezogene Anträge (Anträge die keine Gegenanträge nach § 126 AktG sind) möglich; d.h. insbesondere Anträge zur Geschäftsordnung oder zur Abwahl des Versammlungsleiters. Gegenanträge zu Beschlussvorschlägen können hingegen nur noch vor der Versammlung gestellt werden.
Mit Einberufung der Versammlung kann der Vorstand hiervon abweichende – die Rechte der Aktionäre erweiternde – Bestimmungen treffen.
Zur Verbesserung der Informationsbasis der Aktionäre muss der Vorstandsbericht oder dessen wesentlicher Inhalt bis spätestens sechs Tage vor der Versammlung den Aktionären zugänglich gemacht werden.
1.4 Weitere Regelungen
Der Referentenentwurf sieht zudem noch einige Anpassungen technischer Natur vor, darunter beispielsweise Vorgaben zur Aufnahme der zugeschalteten Aktionäre ins Teilnehmerverzeichnis und zur Entbehrlichkeit der Angabe eines Versammlungsortes.
Darüber hinaus regelt der Entwurf eine Teilnahmepflicht am Ort der Hauptversammlung für die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (für Letztere nicht im Fall der nach § 118 Abs. 3 S.2 AktG zulässigen Teilnahme über Bild- und Tonübertragung), den Versammlungsleiter und in den Fällen des § 176 Abs. 2 S. 1, 2 AktG auch für den Abschlussprüfer. Ist zudem nach § 130 Abs. 1 AktG eine notarielle Beurkundung erforderlich, ist auch im Fall einer virtuellen Hauptversammlung die Präsenz des Notars am Ort der Hauptversammlung vorgeschrieben. Wurde ein Stimmrechtsvertreter benannt, soll auch dieser am Versammlungsort teilnehmen dürfen, eine Teilnahmepflicht besteht für ihn jedoch nicht.
1.5 Anfechtungsrisiken
Der Referentenentwurf sieht, wie schon das COVID-19-Gesetz, einen Anfechtungsausschluss im Fall einer auf technische Störungen zurückzuführende Verletzung der Aktionärsrechte in der virtuellen Hauptversammlung vor. Hierdurch soll verhindert werden, dass sich die Gesellschaft bei der Wahl des virtuellen Formats gesteigerten Anfechtungsrisiken ausgesetzt sieht.
Der Anfechtungsausschluss gilt unter dem COVID-19-Gesetz jedoch nicht bei vorsätzlichen Verstößen der Gesellschaft. An dieser Beschränkung auf vorsätzliche Verstöße hält der Referentenentwurf nicht fest, der Anfechtungsausschluss soll nun auch nicht im Fall von grober Fahrlässigkeit gelten. Ausweislich der Entwurfsbegründung wird man aber von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit nicht ausgehen können, wenn ein professioneller Dienstleister mit der technischen Durchführung der Veranstaltung beauftragt wurde.
Der noch im COVID-19-Gesetz geregelte Ausschluss der Anfechtung wegen Verletzung von Formerfordernissen für Mitteilungen nach § 125 AktG findet sich im Referentenentwurf nicht wieder.
Zudem verzichtet der Referentenentwurf auf die noch unter dem COVID-19-Gesetz geltende Voraussetzung, dass der Aktionär für die Einlegung eines Widerspruchs von seinem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben muss. Die Anfechtungsbefugnis wird im Entwurf an die elektronische Zuschaltung des Aktionärs zur virtuellen Hauptversammlung geknüpft.
Faktisch werden die Anfechtungsrisiken für die Gesellschaften durch das wieder voll geltende Auskunftsrecht und die Verpflichtung, in der Hanptversammlung Nachfragen zuzulassen, gegenüber den Erleichterungen der provisorischen Regelungen des COVID-19-Gesetzes wieder erhöht.
2. Ausblick
Innerhalb der nun laufenden vierwöchigen Antragsfrist können Änderungswünsche der Länder und Verbände am Referentenentwurf eingereicht werden. Es bleibt daher abzuwarten, in welchem Gewand die virtuelle Hauptversammlung letztlich Eingang ins Gesetz finden wird. Davon unabhängig lässt sich jedoch bereits jetzt feststellen, dass die virtuelle Hauptversammlung durch die dauerhafte Aufnahme ins Aktiengesetz eine echte Alternative zur Präsenzveranstaltung darstellt, welche insbesondere durch die umfassende Regelung der Aktionärsrechte weit über das provisorische Modell des COVID-19-Gesetzes hinausgeht.
Der Entwurf stellt eine willkommene Verarbeitung der Erfahrungen mit virtuellen Hauptversammlungen durch den Gesetzgeber dar, der allerdings noch deutlich vom Leitbild der Präsenzhauptversammlung geprägt ist. Die Regelungen zum Rede- und Nachfragerecht in der Hauptversammlung bilden bei großen Gesellschaften die entwickelte Praxis ab, für kleine börsennotierte Gesellschaften stellen sie eine große Herausforderung dar.