Überblick
EPGÜ Art 9 I, II (analog); EPGVerfO Präambel, R. 9.3 lit. b, R. 224.1 lit. b, R. 224.2 lit. b, R. 225 lit. e, R. 323
1. In EPGÜ-Berufungsverfahren, bei denen es nicht um technische Fragen geht, kann das Berufungsgericht ohne technisch qualifizierte Richter entscheiden.
2. Im Rahmen einer Berufung gegen eine Entscheidung des Gerichts erster Instanz, in welcher der Antrag auf Änderung der Verfahrenssprache zurückgewiesen wurde, ist ein am Tag des Fristablaufs für die Berufung eingereichter Antrag des Berufungsklägers auf Verkürzung der Berufungserwiderungsfrist gemäß R. 9.3 lit. b EPGVerfO wegen überwiegender Interessen des Berufungsbeklagten und wegen der Grundsätze eines ordentlichen Verfahrens zurückzuweisen, selbst wenn der Berufungskläger sodann im erstinstanzlichen Verfahren gezwungen ist, seine Klageerwiderung in der angegriffenen Verfahrenssprache einzureichen. (Leitsatz 1 des Gerichts, Leitsatz 2 des Verfassers)
EPG, Anordnung vom 18.12.2023 – UPC_CoA_ 472/2023, GRUR 2024, 238 – Fristverkürzung I
Sachverhalt
Das Gericht erster Instanz hatte mit Anordnung vom 27.11.2023 einen Antrag auf Änderung der Verfahrenssprache von Deutsch auf Englisch (Sprache des Streitpatents) abgelehnt. Dagegen wehrten sich die Beklagten mit einer Berufung. Sie beantragten im Hauptverfahren vor dem Berufungsgericht (APL_594230/2023) die Aufhebung der Anordnung und Änderung der Verfahrenssprache in die Sprache des Streitpatents.
Im Berufungsverfahren beantragten sie am 12.12.2023 gemäß R. 9.3 lit. b, 225 lit. e EPGVerfO eine Beschleunigung des Verfahrens (App_594327/2023). Das Berufungsgericht möge der Berufungsbeklagten eine Berufungserwiderungsfrist von nur fünf Arbeitstagen setzen und nach Ablauf so bald wie möglich eine Entscheidung erlassen, wenn möglich mindestens drei Tage vor dem 22.12.2023. Die Berufungskläger machten ein dringliches Interesse geltend, da ihre Klageerwiderung und Widerklage im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz am 22.12.2023 fällig seien und sie letztlich erreichen wollten, ihren Schriftsatz im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz in englischer Sprache einreichen zu können.
Entscheidung
Der Antrag auf Fristverkürzung ist zulassig, aber unbegründet. Es bleibt somit für die Berufungsbeklagte bei einer Berufungserwiderungsfrist von 15 Tagen. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, dass die Interessen der Berufungsbeklagten und die Grundsätze eines ordentlichen Verfahrens (Verhältnismäßigkeit, Fairness und Billigkeit) die Interessen der Berufungskläger überwiegen. Das Berufungsgericht betont auch, dass die begründete Berufungsschrift am 12.12.2023 außerhalb der Geschäftszeiten eingereicht worden sei und die Berufungskläger selbst somit die für sie geltende Berufungsfrist von 15 Tagen vollständig ausgenutzt hatten. Folge ist, dass selbst bei sofortiger Stattgabe am nächsten Tag die Berufungsbeklagte ihrerseits nur vier Arbeitstage Zeit für ihre Berufungserwiderung gehabt hätte.
Praxishinweis
Überzeugend stellt das Berufungsgericht die Interessen der Berufungsbeklagten an einer ihrerseits angemessenen Frist zur ordnungsgemäßen Vorbereitung der Berufungserwiderung in die Abwägung der Parteiinteressen ein – auch unter Berücksichtigung der Zeit, welche die Berufungskläger selbst für die Vorbereitung ihrer Berufung in Anspruch genommen hatten. Zu Recht betont das Berufungsgericht die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, Fairness und Billigkeit bei Anwendung der EPGVerfO (siehe Präambel der EPGVerfO, Nr. 2 und Nr. 5). Im Ergebnis gelangt das Berufungsgericht überzeugend zu einem Überwiegen der Interessen der Berufungsbeklagten. Es erschient unbillig, der Berufungsbeklagten nur vier Arbeitstage zur Einreichung einer Berufungserwiderung zuzugestehen und dabei die grundsätzlich geltende 15-Tage-Frist um mehr als zwei Drittel zu verkürzen.
Dass die Berufungskläger in der Folge gezwungen wurden, ihre Klageerwiderung im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz weiter in der von ihnen angegriffenen Verfahrenssprache (Deutsch) einzureichen, änderte nichts an dieser Entscheidung. In der Praxis sind Parteien somit gehalten, Anträge auf Fristverkürzung so früh wie möglich – und nicht erst kurz vor Ablauf der eigenen Frist – einzureichen. Das Gericht wird die Interessen der Gegenseite jedenfalls berücksichtigen und nur angemessene Fristverkürzungen gewahren.
Die Begründung für Leitsatz 1 ist den Entscheidungsgründen der Originalentscheidung (GRUR 2024, 238) aus der Datenbank des EPG zu entnehmen. An den beiden auf die hiesige Anordnung folgenden Tagen ergingen zudem in zwei Parallelverfahren ähnliche Anordnungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Spruchkörpers bei verfahrensrechtlichen Anträgen (UPC_CoA_ 476/2023 und UPC_CoA_ 478/2023).
Grundlage ist eine analoge Anwendung von Art. 9 II EPGÜ. Auch dies überzeugt im praktischen Ergebnis – obwohl eine planwidrige Regelungslücke wegen Art. 9 I EPGÜ nicht auf der Hand liegt. Für die Ansicht des Berufungsgerichts lässt sich jedenfalls anführen, dass technische Sachverhalte bei rein verfahrensrechtlichen Fragen keine Rolle spielen, sodass entgegen Art. 9 I EPGÜ ein Hinzuziehen von technisch qualifizierten Richtern nicht notwendig erscheint. Dann verhindert die genannte Analogie, dass durch die Zuweisung technisch qualifizierter Richter bzw. Richterinnen eine ggf. mehrwöchige Verzögerung eintritt. So werden in Einklang mit Erwägungsgrund 6 des EPGÜ rasche Entscheidungen ermöglicht, die Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Verfahrens wahren. Das Berufungsgericht führt für die Analogie zudem Verhältnismäßigkeit, Fairness und Billigkeit sowie Flexibilität an und betont, dass Art und Komplexität des Verfahrens zu berücksichtigen sowie Verfahrensvorschriften ausgewogen anzuwenden seien.